Ein unglaublicher Tag

Thomas schreibt:

Der Tag davor: Ich treffe eine Familie, die im Laufe des abends auf glatte 30 Leute anwaechst. In dieser Familie gibt es einen beinamputierten 24 jaehrigen, der sich bei einer Uebung innerhalb der libanesischen Armee eine Schussverletzung zugezogen hatte. Das ganze, so verstehe ich, ist vor 4 Jahren passiert. Er hat immer noch Schmerzen im Oberschenkelstumpf, will aber nicht bemitleidet werden und ist allerbester Laune. In 1-2 Monaten soll er nach Deutschland oder Frankreich fuer eine Prothesen-Anpassung. Die Armee bezahlt.
Es wird mir ein Mann vorgestellt, der 10 Kinder hat. 5 kann er nur in die Schule schicken, kostet 100 US$ im Jahr, fuer die anderen 5 hat er nicht genug Geld. Keine Seltenheit. Der Staat hilft nicht.

Der unglaubliche Tag! 🙂 und 🙁
Morgens lande ich bei 3 verschiedenen Familien, die mich unbedingt auf einladen wollen, Tee, Kaffee, Wasser oder irgendetwas zu essen.
Und gegen Mittag lande ich nach Sepentinen in einem Dorf namens Qabaait. Man hat mir bereits drei Tage vorher davon berichtet. Ich lande dort, weil ich mich im Weg vertan habe und werde von Omar (24) aufgespuert. Seine Einladung ist wunderbar herzlich, so folge ich ihm, einen weiteren km Umweg, aber es fuehlt sich gut an. Schon nach einer kurzen Weile, sagt er, er wuerde gerne mit mir gehen, ein paar Tage oder so….. Er bringt mich zu einer seiner Bruder-Familien und ich atme auf, da diese Menschen so wunderbar ruhig ist. Der 7-8 jaehrige Sohn der Familie ist ganz begeistert von dem Friedensvogel, den ich bastele und hegt ihn vorsichtig, andaechtig in seiner Hand und will ihn fuer immer aufheben, in guter Erinnerung an mich. Ob ich duschen moechte, gerne – ob ich etwas essen moechte, warum nicht, Hunger hab ich – ob ich ein paar Tage bleiben moechte…., weiss nicht, glaub nicht – ob ich meine Waesche gewaschen haben moechte, gerne – ob ich etwas Neues zum Anziehen brauche, nicht noetig – ok nach einer Weile, entscheide ich mich, eine Nacht hier zu bleiben.
Omar ist auch ganz angetan von den Friedensvoegeln und meint, ich koennte doch zu einer der trauernden Familien in seinem Dorf kommen. Hier ist eine Tragoedie passiert. 17 Menschen aus diesem Dorf sind in Indonesien, bei einer Fluechtlingskatastrophe mit einem Boot, ganz kurz nach Verlassen des Bootes vom Ufer (120 waren an Bord) ertrunken. Alle wollten nach Australien. Ich bin erst etwas skeptisch, ob ich dahin gehoere, doch bei den Moslems ist es Brauch, den trauernden Beizustehen, oft versammelt sich das ganze Dorf. Bei der genannten Familie sind insgesamt 8 von 9 Familienmitgliedern gestorben. 8 Kinder und die Mutter. Der Vater hat ueberlebt. Alle konnten wahrscheinlich nicht schwimmen. Der Vater, Hussein, ist noch in Indonesien, und wir sollen den Grossvater besuchen. Ich fertige 9 Voegel, einen fuer jeden gestorbenen und wir machen uns auf den Weg. (Zwischendrin wird noch nebenbei eine andere Verwandtenfamile besucht) Inzwischen hat Omar mit einem Fernsehsender – dem besten im Libanon – der gerade im Dorf ist, und auch ueber eben diese Familie berichten will, telefoniert, ich soll doch noch ein Interview geben und diese Friedensvoegel vorstellen. Ich weiss zwar nicht so recht, wie ich da in dieses Program reinpassen soll, aber ich bin gerne bereit, ueber das Friedenspilgerprojekt zu berichten. Schwupps kommt sie vorbei und die faehige, extrem auffassungsbegabte Interviewerin, hat schnell alles im Kasten. Omar ist auch zufrieden. Wir gehen zu der trauernden Verwandtschaft und es sind mindestens 25 Maenner anwesend, die Frauen sitzen in einer anderen Ecke. Gleichzeitig kommt ein schon immigrierter Australienauswander aus Melbourne mit uns an, der Grossvater Ahmet und der Enkel weinen. Alles stehen auf, es wird sich begruesst, ich ueberreiche die Friedensvoegel und Ahmet versteht die Geste, freut sich und sagt: Wenn er ganz grosse Sehnsucht hat, wird er sich die 9 Friedensvoegel ansehen.

Omar moechte, das ich noch eine andere Familie besuche, die Tochter ist ebenfalls ertrunken. Der Vater ist ebenfalls ganz dankbar ueber meinen Besuch. Er kommt ein Weilchen spaeter mit einem Tablett voller Essen und bekundet: Ich moechte ganz gerne mit Dir dieses Mahl teilen.

Danach fragt mich Omar, ob ich noch ein anderes Interview will – ein anderer Sender ist ebenfalls im Dorf. Ich fuehle mich nicht so wohl dabei und lehne ab. Hier sollten die trauernden Familien im Mittelpunkt stehen und nicht ich. Der libanesische Praesident ist sogar nach Indonesien geflogen, will mit der Regierung dort reden, es geht um die Ueberfuehrung der Leichen. Jede Ueberfuehrung kostet 20.000 US$. Omar akzeptiert nach einer Weile.

Es steht das Abendprogramm an, jetzt sollen wir zu den Eltern, dort Abendessen, wieder 15 Personen und danach zur Tante (nochmal 15 Personen), Nachbarhaus, alle wollen im Fernsehen sehen, was hier aus dem Dorf berichtet wird – auch ist der Sender nach Indonesien gereist und interviewt einige Ueberlebende, darunter auch Hussein. Einige Frauen weinen. Ich bin froh, das ich da im Fernsehen nicht auftauche, das haette irgendwie nicht gepasst.

Ich bin total erledigt, wegen der vielen Leute, die ich kennenlerne und immer wieder meine Geschichte erzaehlen soll. Aber es ist noch etwas kulturelles geplant. Einer der Anwesenden bei der Tante hat ein Instrument gebaut, aehnlich einer Pferdekopfgeige und singt dazu. Schliesslich werde ich auch aufgefordert, zu singen und ich toene mit dem Instrument ein paar Obertoene in den Raum, muss danach noch mal ohne Geige vorfuehren….. Danach startet eine intensive Unterhaltung, die in einen anderen Raum verlegt wird.
Ich bekunde ein weiteres Mal – ich muss jetzt ins Bett – und Omar willigt schliesslich ein.
2 andere Uebernachtungsangebote flattern mir entgegen, ich moechte aber dahin wo mein Gepaeck ist – zu der ruhigen Familie. Bis wir da ankommen, soll ich noch 2x mal neuen Leuten berichten, ich kann nicht mehr…. will ins Bett.
Jetzt ist das Quartier zu, was mich beherbergen soll, es macht auch keiner auf. An mein Gepaeck komme ich auch nicht ran.
Nach einer Weile – Omar kommt mir irgendwie besoffen vor – hat nicht getrunken, kommt wohl von der Wasserpfeiffe – landen wir nach verschiedenen Optionen bei einer anderen Schwaegerin. Ich meditiere noch, 23:30 Uhr, hoere die beiden lautstark miteinander reden und telefonieren, frage mich, mit wem man um diese Zeit telefoniert…. will schon intervenieren, wegen dieser Lautstaerke, aber ich hab ja Ohrenstoepsel. Ich liege schliesslich und bin fast eingeschlafen, als die beiden ins Zimmer kommen und mir sagen: Ich muesse woanders schlafen. Mehrere TV-Kanaele haben Omar angerufen und gefragt, was ich denn fuer einer sei – vielleicht von einer australischen Zeitung? – der mal schauen will, was hier so los ist. Der Bruder ist Polizist, und deshalb kann ich nicht mehr bei der Schwaegerin uebernachten, das koennte zusaetzlich Schwierigkeiten fuer ihn verursachen.

Ich werde von Freunden durch das Dorf kutschiert, zum Buergermeister. Hier soll ich natuerlich noch mal erzaehlen, wer ich bin und so. Ich kann wirklich nicht mehr. Omar ist der Verzweiflung nahe, wirklich ueberfordert mit der ganzen Situation, hat auch den ganzen Tag uebersetzt, will mich auf die Strasse schicken, soll weitergehen, es ist inzwischen 1 Uhr morgens. Ich kann es nicht fassen. Der Buergermeister lenkt aber ein, ich darf dorf schlafen. Moskitogeplagt – schon die 6. Nacht hintereinander, bin ich trotzdem froh, einigermassen ruhen zu koennen.
Omar kriegt von mir noch eine Umarmung, vielleicht kommt er dann wieder runter, er weiss einfach nicht, was er glauben soll und wankt danach auf die Strasse, Freunde sind bei ihm. Am naesten Morgen kommt er nicht mehr vorbei. Kein Friedensvogel, wie schade, er hat keinen gekriegt; und mit mitpilgern ist es wohl auch nix.

An diesem Tag hatte ich etwa 80-100 Leute kennengelernt, 5 Mahlzeiten zu mir genommen, das ist einfach zuviel des Guten, puh. Gluecklicherweise gibt es immer den Ausgleich, 2 ruhigere Tage folgten.

Angesichts des Bootsunglueckes auf Lampedusa/Italien, kann ich nur hoffen, das wir es endlich verstehen, mehr Menschen Einwanderung, Stipedien fuer Studierende zu gewaehren, mehr Projekte in Entwicklungslaendern zu foerdern,  etc.. Hoffentlich tut sich da was in der Welt/in Europa/in Deutschland.

Herz
Thomas

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